Namen und Art der Götter
Zum Gottesbegriff kann nur ein höher veranlagtes, geistig fortgeschrittenes Volk gelangen. Zweifellos sind die religiösen Grundlagen oft dieselben wie beim Geisterglauben, ein Zusammenhang zwischen Gott und Naturgeist ist nicht abzuleugnen.
Der Machtbereich des Letzteren erscheint beim Gotte nur vermehrt und erweitert, die Eigenschaften mehrerer Dämonen sind manchmal vereinigt auf ein höheres Wesen übertragen, ohne dass die Elbe und Riesen deshalb aufhörten, die vielmehr im Gefolge des Gottes oder auch als seine Feinde weiterleben. Gerade aber diese Anschauung setzt einen höheren Gedankenflug voraus, der Gottesbegriff bedeutet den Sieg des Geistes über den rohen Stoff. Der Naturdämon lebt ganz in seinem Element; ist er mit übermenschlicher Fähigkeit begabt, so ist er doch beschränkt wie sein Wirkungskreis. Selbst seine äußere Erscheinung ist durch seinen Ursprung bestimmt. Der Gott aber thront über den Elementen als ordnender, richtender Herrscher. Seine Gestalt ist die des edlen Heldenkönigs, blühend in Schönheit und Kraft oder Ehrfurcht erweckend durch Weisheit und reiche Erfahrung. Die Göttin erscheint als hehre und anmutige königliche Frau. Der Gott, wie er in der Vorstellung der Völker lebt, vereinigt alles Vollkommene in einer glänzenden, mächtigen, geisterfüllten Persönlichkeit. Er ist das Ideal der sterblichen Helden und Fürsten. Der Gottesdienst gewinnt ungleich höhere Bedeutung: Seelen und Elbe empfangen Opfer, weil sie ins alltägliche, gewöhnliche Leben, in die Wirtschaft hemmend und fördernd eingreifen, die Götter aber lenken die Geschicke des gesamten Volkes, Staat und Recht ist von ihnen gesetzt und wird von ihnen geschützt, sie verkörpern die sittliche Macht. Die Indogermanen waren bereits zum Gottesbegriff gelangt, und eine gemeinsame Grundlage, so verschieden die spätere Entwicklung bei den einzelnen Völkern sich auch vollzog, liegt überall vor. Es war ein Glaube an das Walten lichter Götter (indisch dêvas), an deren Spitze der Beherrscher des hellen Tageshimmels stand. Die natürlichen Feinde des Lichtes sind die Mächte der Finsternis, in deren Schutze die Unholde ihr Wesen treiben. Nicht immer blieb der Himmelsgott in seiner führenden Stellung. Zwar Zeus hat sie behauptet, aber der indische Dyâus räumte bald andern den Platz, schon die ältesten Urkunden zeigen ihn zurückgedrängt. Ebenso geschah es bei den Germanen. Schon hieraus sieht man, wie sehr der Götterstaat dem Wechsel unterliegt. Die allgemeinen Grundtypen des Seelen- und Elbenglaubens sind allerdings gemeingermanisch, schon bei den Riesen aber beginnen die besonderen Gebilde, bedingt durch die Naturverhältnisse, in denen die verschiednen Stämme lebten. Noch viel stärker aber sind die Unterschiede im Götterglauben, in dem fast jeder Stamm eigene Wege wandelte. Nur weniges, aus der vorgermanischen Urzeit ererbt, gehört allen Germanen gemeinsam und darf daher in die vorgeschichtliche Periode vor Beginn der bestimmten Nachrichten zurückverlegt werden. Drei Göttergestalten sind allein mit Sicherheit zum Urbestand des germanischen Himmels zu rechnen: der des Donners mächtige Himmelsgott (Jupiter tonans) in die zwei Gestalten des Tiuʒ und Þonaraʒ gespalten und seine Gattin Frijȏ, die Liebliche. Alles andere scheint Sonderbildung der einzelnen Stämme und Kultverbände zu sein. Die folgenreichste Neuerung im Glauben unsrer Väter, das allmähliche Aufkommen des Wȏðanaʒ, sein Sieg über Tiuʒ vollzieht sich im Gesichtskreis unsrer Beobachtungen. Eine runde, feste Götterzahl ist weder für die Urzeit noch für später nachweisbar. Der Grundzug des germanischen Götterglaubens ist kriegerisch. Das Schicksal des Volkes entscheidet die Schlacht. Daher ist die Göttersage von Kämpfen erfüllt, um Sieg wird die Gottheit angerufen. Siegesglück ist die höchste Spende, die der Gott verleiht. Im Heldenzeitalter treten die germanischen Stämme in die Geschichte, von Heldengeist ist ihre älteste Dichtung erfüllt, dasselbe Gepräge trägt Götterglaube und Göttersage. Nur selten in abgelegenen Ländern wird der hohe himmlische Herrscher ebenso eifrig als Herr des Friedens wie als Herr des Sieges gepriesen und angerufen.
Die gemeingermanische Bezeichnung der Gottheit lautet got. guþ, pl. guda, as. ags. ahd. god, got, an. goð, guð. Die urgermanische Grundform ist als guðam, pl. guðo anzusetzen.1 Aus dem Gotischen und Nordischen ergibt sich, dass die Form des Wortes ursprünglich neutral war und wohl meist in der Mehrzahl vorkam. Erst im Christentum gewann der allgemeine Begriff bestimmte Bedeutung und wurde als Maskulinum gebraucht. Dem germanischen Heidentum lag im Worte »Gott« der Begriff »Gottheit, göttliches Wesen«. Die Etymologie führt auf eine indogermanische Partizipialbildung ghutóm zur Wurzel gheu, ghu, welche im Sanskrit und Avestischen namentlich im sakralen Sinne verwendet wird und das Anrufen der Götter bezeichnet. Ghutom ist das mit Opfer und Gebet angerufene Wesen, erweist mithin uralten, vom höheren Gottesbegriff untrennbaren Gottesdienst. Ein Femininum zu Gott konnte sich erst spät einstellen, nachdem das ursprüngliche, sächliche Geschlecht verblasste und dafür das männliche aufkam. Darum entbehren wir auch einer gemeingermanischen Femininbildung. Im Westgermanischen entstand zu Gott später Göttin (ags. gyden, ahd. gutin, mhd. gutinne, gotinne, götinne), im Nordischen gyðja, womit sowohl die Priesterin wie die Göttin bezeichnet wird.
Durch alle germanischen Sprachen geht ein zweites Wort, dessen vollen Gehalt die nordische Mythologie erschließt. Nach Jordanes Kap. 13 führten die Goten ihren Adel, durch dessen Glück sie siegten (quorum quasi fovtuna vincebant), auf Halbgötter (semideos id est ansis) zurück. Die gotische Form im Nom. pl. wäre ansîz, der Sing, müsste »ans« lauten. Diese ansîz waren siegspendende Götter. Die hochdeutschen Stämme haben das Wort in Eigennamen wie Arno, Anshelm, Anshilt und ähnlichen bewahrt, die Sachsen und Angelsachsen in Oswald, Oslaf, Osdäg usw. Im Ahd. lautet also das Wort ans, im As. Ags. ȏs, wozu der bewahrte ags. Plural êse (im Fries. ees) stimmt. Auch im Deutschen deklinierte das Wort in der Mehrzahl nach den i-Stämmen. Im Altnordischen ist áss aus älterem ǫ́ss, *ǫ́sur, *ansuz, hervorgegangen, der Sing, stand zu den u-Stämmen2, im Plur. tritt aber auch hier der i-Stamm zutage, æsir aus *ansîz Die ursprüngliche Bedeutung ist nicht zu erschließen, weil das Wort mit Sicherheit nicht ins Indogermanische zurückgeführt werden kann. Zur männlichen Form bildete die nordische Sprache die weibliche ásynja. Durch besondere Verhältnisse gewann der Begriff der Ansen im nordischen Götterglauben nachmals beschränkte Bedeutung, insofern eine besondere Götterschar als æsir einer andern (den vanir) gegenüberstand.
Aus indogermanischer Wurzel stammt die an. Bezeichnung tívar3, die Lichten, von der jedoch sonst keine Spur vorhanden ist. Aus derselben Wurzel scheint aber der Göttername Tiuʒ (an. Týr, ahd. Zio) geleitet zu sein.
Als eine ratende und richtende Versammlung heißen die Götter regin und metod. Regin ist im Nordischen und Sächsischen bezeugt. Das Wort ist aber gemeingermanisch, ragin im Gotischen bedeutet Rat. Die nordische und wohl auch die sächsische Sprache verwenden regin im Sinne der ratenden Götter nur im Plural. In den Hǫ́konarmǫ́l 18 wird der Ausdruck noch verdeutlicht: rǫ́þ ǫll okregen, alle ratenden Mächte. In der Vǫlospǫ 6, 9, 23 gehen alle regin, die hochheiligen Götter zu den Ratstühlen (rökstólar,dómstólar) und halten Rat. Wir sehen die regin in ihrer Eigenschaft als Ratsversammlung niedersitzen. Der Begriff wird noch gesteigert als ginnregin die großen Götter, und die oberen, himmlischen Götter. Im Götterrat wird das Schicksal bestimmt, welches noch im Heliand 2593 und 3348 regano giskapu, der Ratenden Schöpfung ist. Im Altsächsischen und Angelsächsischen wird für Schicksal auch metodo (Hel. 2190, 4827) und meotodsceaft, metodsceaft (Beow. 1077, 1180,2815) gesagt.4 Metod wird ags. und as. auch vom Christengott, ursprünglich wohl von der Gottheit überhaupt gebraucht. Dasselbe Wort, aber in verschiedener Bedeutung, begegnet auch im Nordischen (mijǫtuðr stm. Verhängnis, Tod) und Gotischen (mtaþs stf. Maß). Metod ist der »Messer«, der einem etwas zumisst, der Richter. Auf denselben Gedankenkreis leiten regln und metod, die Götter sind Rater und Richter, das Schicksal ist das von ihnen gefundene und gefällte, festgesetzte und vollzogene Urteil.
Über die vanir, die Glänzenden oder die Seegötter, wie in der nordischen Mythologie eine besondere Götterschar heißt, wird im Abschnitt Freys berichtet. Merkwürdig ist die in nordischen Quellen übliche Bezeichnung hǫptok bond, Hafte und Bande, für die Götter. Mit Haften und Banden (ahd. haptbandun) können nur Fesseln gemeint sein. Warum aber sind die Götter Fesseln? Vielleicht, weil sie allen Übermut, der die sittliche und natürliche Weltordnung bedroht, sei es von Seiten der Menschen oder Riesen, in Fesseln schlagen und niederhalten. Aus Ehrfurcht vor dem Allwalter betraten die Semnonen den heiligen Hain nur gefesselt (vinculo ligati). Derselbe Gedanke mag den Namen der »fesselnden« Götter hervorgerufen haben, der die Semnonen zur freiwilligen Fesselung vor dem Gotte veranlasste. Würde die Fessel, die dem Übermut von höheren Mächten angelegt ist, gesprengt, so müssten alle Bande sich lösen, die Welt geht aus den Fugen. Der Teufel ist gefesselt, kommt er los, so geht die Welt unter. So sind die zwingenden, hemmenden Fesseln zugleich die haltenden Bande und Hafte der bestehenden Weltordnung, das Gesetz, das sie erhält. Neben dem Neutrum vé, Heiligtum, steht im Nordischen das schwache Adj. vé, gen. véa, der Heilige, wie etwa ahd. der wîho, sanctus, neben wîh, templum. Im Singular begegnet vé nur als Eigenname, Odins Bruder heißt der Heilige (Lokas. 26), im Hymirlied 40 steht aber der Plural véar, die heiligen Götter. Diese Bezeichnung ist schwerlich altheidnisch.
An Gestalt und Aussehen gleichen die Götter den Menschen. Eine ideale Menschengestalt schwebt dem Gottesbegriffe vor. Daher mag es vorkommen, dass wohl gestalte und reich gekleidete Männer vom erstaunten Volk geradezu für Asen angesehen werden. So heißt es in der Landnáma 3 Kap. 10 von den Söhnen des Hjalti: wie sie zum Ding kamen, waren sie so wohl angetan, dass die Leute meinten, die Asen seien gekommen; und in der Vǫlsungasaga Kap. 26 meint einer von den Leuten des Gjuki, da er den Sigurd anreiten sieht, einer der Götter fahre daher. Die schöne lichte Farbe wird bei Heimdall, Baldr und bei der Idun, der Weißarmigen (Lokasenna 17) hervorgehoben, Sif Thors Frau trägt herrliches Goldhaar, im Übrigen aber erhalten wir keine besondern Einzelschilderungen. Unter den Göttern sind ältere und jüngere gedacht. Odin ist ein älterer, bärtiger Mann, doch keineswegs gebrechlich, greisenhaft, vielmehr stattlich und ehrfurchtgebietend im Waffenschmuck, wie ein bejahrter, viel erfahrener, aber noch rüstiger und waffenfähiger Volkskönig, Thor ist eine blühende Mannesgestalt mit rotem Bart, Baldr ein strahlender, jugendschöner Held. Nach der Geburt wachsen die Gottersöhne oft wunderschnell zu großer Kraft hervor, eine Nacht alt, macht sich Wali Odins Sohn zur Rache Baldrs auf, drei Nächte alt, befreit Magni Thors Sohn den Vater von der ungeheuren Last des über ihn gestürzten Hrungnir. Es finden sich Spuren, dass die Götter besondere Nahrung genossen. Zwar hatten sie Biergelage und Thor isst gierig Lachse und Ochsenbraten, die wandernden Äsen sieden Ochsenfleisch. Aber andererseits bedarf Odin keiner Kost, mit seinem Teil von Eberfleisch, das den Einherjern in Walhall vorgesetzt wird, füttert er seine Wölfe, er selber lebt allein von Wein. Idun verwahrt Äpfel, durch deren Genuss die alternden Götter sich verjüngen. Odrerir, der begeisternde Dichtertrank, ist vielleicht ursprünglich ein Verjüngungstrank, der das Altern verhindert.5
Es liegt im lebenskräftigen Götterglauben begründet, dass der Gott ein höheres, längeres Leben führt als der Mensch. Unsterblichkeit und Ewigkeit im Vergleich zum kurzlebigen Menschen gebührt dem Gott. Tiefere Denker mögen allmählich auch das Göttliche als endlich erkennen. So sind die griechischen Götter ewig, aber neben dieser vorherrschenden Betrachtung taucht auch der Gedanke an ihren Untergang auf. Über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der germanischen Götter wissen wir nichts; denn die nordischen Verhältnisse dürfen nicht verallgemeinert werden. In der nordischen Göttersage freilich sind fast alle Götter dem Waltode geweiht, zuerst wird Baldr getötet, am Weitende aber erwartet die Walhallgötter der Schlachttod. Da der Untergang der nordischen Götter mit dem Weltuntergang zusammenhängt, letzterer aber ungermanisch ist, dürfen wohl auch die germanischen Götter wie die griechischen und indogermanischen ewig gedacht werden.
Die germanischen Götter erscheinen reitend oder gehend, nur Thor fährt auf seinem mit zwei Böcken bespannten Wagen. Darum werden Namen verschiedener Götterpferde aufgezählt. Selbst göttliche Frauen bedienen sich, den Walküren gleich, der Rosse. Bei den Menschen aber werden Gottheiten feierlich im Wagen umhergeführt, wie die Nerthus und Freyr in Schweden. Altertümlicher ist gewiss das Wagengespann; die berittenen Götter entstammen wiederum deutlich der germanischen Heldenzeit, die Kämpfe werden zu Fuß oder zu Ross, nur äußerst selten und schwerlich auf echt heimischer Sage begründet zu Wagen wie z.B. in der Brawailaschlacht ausgefochten. Wenn die Götter ausreiten oder ausfahren, so erbebt die Erde. Aus den Mähnen und vom Gebiss der Götterrosse träufelt befruchtender Tau aufs Gefilde herab. Die Götter reiten und fahren durch die Lüfte und auf dem Wasser wie auf dem Lande. Wenn sich die Götter, meist in unscheinbarer Gestalt, unter die Menschen mischten, so erschienen und verschwanden sie plötzlich. Fürs Verschwinden gebraucht die nordische Sprache das Wort hverfan, Oþinn hvarf þá, Odin verschwand da, heißt es am Schlüsse des Grimnirliedes. Vermutlich galt überhaupt das gemeingermanische Zeitwort hwerban hierfür. Die Verwandlungsfähigkeit haben die Götter mit allen überirdischen Wesen gemeinsam, jedoch machen sie verhältnismäßig selten und dann mehr in zauberischer Weise davon Gebrauch. Die Götter werden im Allgemeinen als heiter, wohlgemut (teitr, glaðr) und mild (blíðr. sváss, hollr) geschildert. Sie sind dem Menschen gnädig gesinnt. Dem Thor lacht vor Freude das Herz in der Brust (hló hugh í brjosti), aber sein Zorn bricht oft auch furchtbar hervor. Wenn er unwillig zürnt, lässt er die Brauen über die Augen sinken, macht finstere Brauen und schüttelt den Bart. Für Odin ist neben aller Heldenschaft doch auch Tücke und Hinterlist Freund und Feind gegenüber bezeichnend. Das Leben der Götter verläuft wie das der Menschen. Sie befragen das Los, führen Kriege, halten festliche Gelage, üben sich in den Waffen, halten Gericht, ergötzen sich am Brettspiel und lassen sich in Liebeshändel ein. Verzehrende Sehnsucht erfasst Freys Gemüt; Odin ist in allen Liebesränken wohl erfahren. Die Götter haben auch Gefolgsleute und Diener. Skirnir ist Freys Schuhknecht, Fulla der Frigg Kammermagd. Über die Macht der Götter treffen wir abweichende An schauungen. Sie sind die Lenker des Schicksals, das ja metodo und regano giskapu ist, andererseits ist aber auch das Schicksal unabhängig und selbständig gedacht (wurdgiskapu). In der nordischen Sage sind die Götter dem Verhängnis unterworfen. Die germanischen Götter und Wurd verhalten sich wohl ähnlich zueinander wie die griechischen und die Moira. Das Schicksal gilt bald als Willensäußerung der Götter, bald steht es selbständig neben, ja über den Göttern. Regnator omnium, Allwalter, war der Semnonengott, die Bezeichnung lässt unumschränkte Allmacht vermuten. Die den Göttern zugemessene Macht sehen wir so geteilt, dass einer an der Spitze der Übrigen steht, denen besondere Ämter und Verrichtungen zugewiesen sind. Die Rangverhältnisse der Götter waren aber keineswegs gleichmäßig geordnet, gerade hier treten bedeutende Unterschiede im Laufe der Jahrhunderte und bei den einzelnen Völkerschaften hervor, indem der Vorrang unter den Göttern wechselte, bald bei Tiuʒ, bald bei Wodan, bald bei Freyr, bald bei Thor stand. Mithin ist auch die Anzahl der germanischen Götter keine fest bestimmte, sondern eine ewig wechselvolle. Für die älteste Zeit erkennen wir drei Hauptgötter, deren Verehrung bei den meisten Stämmen sehr wahrscheinlich ist. Wie viele Götter aber die einzelnen Stämme daneben verehrten, lässt sich nicht feststellen. Die Zwölfzahl der Götter spielt weder im deutschen noch im nordischen Glauben eine Rolle. Zuerst gedenkt ihrer das Hyndlalied 30:
Elf noch lebten vom Asenstamme,
Als Baldrs Leiche auf den Brandstoss sank.
Die Stelle steht in dem Abschnitt, der als kurze Woluspa (Vǫlospǫ́ en skamma) bezeichnet wird und wohl erst der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zugehört.6 Die Zwölfzahl entstammt gelehrter Nachahmung des antiken Götterkreises. Sie wird von Snorri Sturluson in der Ynglingasaga Kap. 2 u. 7 und in der Gylfaginning Kap. 20 (SE. 1, 82) wiederholt, ist aber so wenig begründet, dass die Anzahl der wirklich bezeugten Asen damit gar nicht übereinstimmt. Wir haben es sicher mit einem späten gelehrten Versuche des 12./13. Jahrhunderts zu tun, der keine weitere Beachtung verdient.
Die Wohnstätte der Götter ist im lichten Himmel oder auf hohen Bergen gedacht, die in den Himmel hineinragen und weite Überschau gewähren. Ásgardr goðrheimr (Götterheim), heilakt land (heiliges Land), ragna sjǫt (Göttersitz), hodd goða (Götterbezirk) lauten die Bezeichnungen bei den nordischen Dichtern. Auf den Himmel weisen unmittelbar die Namen uppheimr, upplǫnd, wie in mhd. Gedichten der Himmel oberland heißt, wo die uppregin hausen. Tiuʒ und die tívar gehören schon des Namens halber in den Himmel. Wodan, Odin und Freyr schauen vom himmlischen Hochsitz aus auf die Welt herab. Von den Namen der Götterwohnungen, welche das Grimnirlied aufzählt, bezeichnen einige den weiten glänzenden Himmel (Breidablik, Glitnir, Bilskirnir). Auf himmelhoch ragendes Gebirg deutet Heimdalls Wohnsitz Himinbjorg. Die Götterberge brauchen nicht immer als Kultstätten, sie können auch als Wohnsitz gedacht sein. Nach der SE. liegt Asgard inmitten der Erde, wohl als hochragender Götterberg, dessen Gipfel durch die Wolkendecke in ewig heitere Klarheit ragt. Auch der Göttersitz Olymp ist Berg und Himmelsraum zugleich.
Wolfgang Golther, Germanische Mythologie, 1895, 5. ed. 2013.